Die SMS-Reise nach China 2015 − Eindrücke vom Dach der Welt

Eindrücke vom Dach der Welt und dem Lernen im Kessel von Sichuan

Von Sandra Diezmann-Wikowski, Marianne Ruoff, Monika Stützle-Hebel, Johannes Sturm, Gerhild Tegeler, Velia Wortman, Wenjun Zhong, gekürzt von Josef Hummelsberger

Die Societas Medicinae Sinensis (SMS) – die Internationale Gesellschaft für Chinesische Medizin − hat zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher TCM-Apotheken (TCM-Apo AG) eine Studienreise vom 23. Mai bis 14. Juni 2015 nach Tibet und Chengdu organisiert. 24 Ärzte, zwei Apotheker, ein Botaniker und eine Designerin, begleitet von einigen Ehepartnern und -innen und Kindern, verbrachten eine Woche auf dem Dach der Welt in Tibet (Lhasa und Shigatze) und absolvierten zwei Wochen lang ein klinisches Praktikum an der TCM-Universität Chengdu.
Sandra spricht wohl nicht nur für sich, wenn sie sagt: „Es war eine der schönsten Reisen, die ich je gemacht habe. Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit Akupunktur und wollte endlich einmal sehen, wie in China gearbeitet wird. Gerhild hat vorgeschlagen, diese Reise … zusammen zu machen, und dafür danke ich ihr sehr, denn ‚allein‘ hätte ich diese Reise nicht mitgemacht. Und ich würde es immer wieder tun. − Insgesamt hat sich meine Sicht auf China sehr verändert. Ich habe es sehr bedauert, mich mit diesen Menschen nicht unterhalten zu können. Ich habe die Chinesen als neugierig, kontaktfreudig, freundlich und sehr hilfsbereit kennen gelernt. Nur eine Situation, bei der eine Frau umgefahren und verletzt wurde, hat mich verstört, da ich da den Eindruck hatte, dass ein einzelner Mensch nichts wert ist.“
Die erste Woche: Tibet
Die Menschen
Tibet war trotz anstrengenden Programms sehr beeindruckend. Menschen mit strahlenden Augen, obwohl die Lebensumstände dort alles andere als einfach sind, und die tiefe Gläubigkeit, die freundlichen, zufriedenen Menschen und tolle Farben sind in Erinnerung geblieben. Demut und Dankbarkeit für unser eigenes großartiges Leben, für die Möglichkeit, solch eine Reise erleben zu dürfen, und eine Reisegruppe, die durch das Tibet-Erlebnis zusammengefunden hat, schwingen noch lange nach.
Die Besuche der wichtigsten Stätten des tibetischen Buddhismus brachten uns in engen und vielfältigen Kontakt mit der Religion der Tibeter: Tempel, Buddhas, Stupas, Gebetsmühlen, alles aufwändig gepflegt und renoviert in den Klöstern Kumbum in Xining, im Potala-Palast (dem cäsaropapistischen Zentrum von Tibet, erbaut im Jahr 637) und den Jokhang-Tempel (das bedeutendste Heiligtum, zwischen 642 und 653 fertig gestellt, das jeder Tibeter einmal besucht haben muss) in Lhasa, der Tempel in Beju und das Kloster Tashilunpo (dem traditionellen Sitz des Penchen Lama, das die zweithöchste sitzende Buddha-Statue der Welt beherbergt) in Shigatse. Tiefen Eindruck haben auch die Pilger hinterlassen, die ständig um Palast oder Klöster wandern, morgens und abends in einem breiten geschlossenem Strom, ihre Gebetsmühlen drehen, beten, ununterbrochen ihre Niederwerfungen ausführen – oder sich einfach nur unterhalten. Straßenverkäufer, Rauch von Opferaltären und der Butterkerzen-Geruch prägen das unvergessliche Bild.

Die politische Situation
Die politische Situation ist immer noch angespannt. So hielten wir erst wenige Stunden vor der geplanten Abreise die Visa und Zugkarten für die Fahrt von Xining nach Lhasa in der Hand und wurden vor dem Einstieg in den Zug strengeren Sicherheitskontrollen unterzogen als an einem Flughafen. Im Potala-Palast gab es gleich drei Kontrollen, und in die Altstadt von Lhasa kam man nur durch eine Sicherheitsschleuse. Befremdlich auch, dass in Tibet nur maximal 20 Personen in einem Bus fahren dürfen, der jeweils von einem chinesischen Polizisten begleitet wird – zur Überwachung des Busfahrers und der Geschwindigkeit, so wurde gesagt.
Die Zugfahrt von Xining nach Lhasa
Die Fahrt von Xining nach Lhasa/Tibet war ein besonderes Erlebnis. Es ging 1.956 km weit mit der höchsten Bahn der Welt bis auf 5.072 m Höhe, den Tanggula-Pass. Den „Softsleeper“ der 1. Klasse hatten wir uns komfortabler vorgestellt. An viel Schlaf war nicht zu denken. Bei einer Sauerstoffsättigung im Blut von gerade mal 58 % hatten viele von uns ziemlich zu kämpfen mit Schwindel, Atemlosigkeit, Kribbeln in Händen und Füßen, einige mit heftiger Übelkeit und Erbrechen. Der Zusammenhalt in der Gruppe war gut, und Velia flitzte ständig sich kümmernd zwischen den Kranken hin und her.

Immerhin konnten einige auch die einmalige und faszinierende Landschaft des Himalaya-Hochlandes mit den Tschiru (Tibet-Antilopen) und den Yak sehen, das trockene, graue Gras, das mit dem gleichfarbigen Boden verschmilzt, einsame kleine Hirten-Häuser, Ödnis, schneebedeckte Gipfel und wie große blaue Spiegel aussehende Seen.
Die zweite und dritte Woche: TCM-Schulung/Paozhi-Kurs in Chengdu
„Dinge ändern sich − andere (erfreulicherweise) nicht“, meint Johannes. „China ist ja für seine rasche Entwicklung in allen Bereichen bekannt. Nach meinem letzten Aufenthalt an der TCM-Universität in Chengdu vor vier Jahren war ich jetzt sehr gespannt, was sich geändert hat. Erkenne ich überhaupt etwas wieder? Bei meiner Ankunft im Wenjun-Hotel erwartete mich die erste positive Überraschung.“ Trotz Renovierung hat das Hotel seinen Flair nicht verloren. „Ich habe mich gleich zu Hause gefühlt. Vor allem der schöne Innenhof lädt die Teilnehmer der Reise abends zum gemütlichen Zusammensein und Austausch ein. Der Weg zum Krankenhaus, das in der Nähe des Hotels liegt, ist jetzt, da die U-Bahn fertig ist, sehr viel entspannter. Es gibt keine Baustellen mehr mit Verteilungskämpfen zwischen Autos, Bussen, Lkw, Mofas, Radfahrern und Fußgängern. Auch die Baumaßnahmen am Krankenhaus sind beendet. Der Eingangsbereich ist nicht mehr wiederzuerkennen.“
Auch an der TCM-Universität hat sich etwas getan: Im Unterschied zu den Besuchen 2008 und 2011 haben wir einen reibungslosen Ablauf in der Gestaltung der Hospitationen in der Klinik und des Theorie-Unterrichts am Nachmittag genossen. Die Mitarbeiterinnen des Foreign Affairs Office waren sehr bemüht, uns bei den besten Ärzten zu platzieren.
Die Stadt
„In dem unglaublich dichten Chengdu scheint die Bevölkerung der ganzen Schweiz versammelt und sich in Hochhäusern zu stapeln.“ Und uns Europäer erstaunt, wie die chinesische Regierung ihr Umweltschutz-Programm mit Tausenden neu gepflanzter Bäume und dem Umstellen aller motorisierten Zweiräder auf leisen und abgasfreien Elektroantrieb in so kurzer Zeit in diesen Dimensionen bewerkstelligt hat.

Gleich in der Nähe gibt es wunderbare Parks, in denen in Gruppen Qigong getrieben und getanzt wird oder in einem Teehaus Elternpaare „Bewerbungsunterlagen“ ihrer erwachsenen Kinder austauschen, um einen passenden Ehepartner für sie zu finden. Aufgrund jüngerer archäologischer Funde besinnt Chengdu sich gerade auf seine prähistorische Vergangenheit, und überall in der Stadt begegnete uns die goldene Sonnenscheibe des Jinsha-Fundortes, dessen Artefakte nicht chinesisch wirken, sondern an Kultgegenstände der Mayas und Azteken erinnern.
Schulung in Chinesischer Medizin und Akupunktur

In Gruppen eingeteilt und in XXL-Kittel gehüllt hospitierten wir jeden Vormittag in den unterschiedlichsten Abteilungen der TCM-Klinik, begleitet von unseren Dolmetschern, jüngeren, hervorragend Englisch sprechenden und hilfsbereiten Medizin- oder Pharmakologie-Studenten und -innen. Die Bereitschaft der Ärzte, uns die Diagnostik und Therapien zu erklären, wuchs, als sie begriffen haben, dass wir langjährige Erfahrungen haben. Einige “Alt-Ärzte“ waren sehr großzügig mit ihrem enormen Wissen und gaben uns auch “Geheimrezepturen” mit.
Die Nachmittagsvorlesungen boten ergänzende theoretische Grundlagen, vieles war vertiefend, einiges neu. Und manches bestätigte uns, dass unsere eigene Ausbildung hervorragend ist, und lässt deutlich werden, wie sensibel und empathisch unsere Arbeitsweise ist, da wir mehr Zeit für die Patienten haben, meint Sandra.

Bei der Schlusszeremonie am Donnerstag, den 11. Juni, wurde jedem feierlich ein Zertifikat der Universität sowie eine typische Teetasse und eine CD mit Fotos von den Stationen unseres Studienaufenthalts überreicht. Auch wir übergaben als Dank kleine Geschenke, besonders an die Dolmetscher.
Die Klinik
Die riesige Empfangshalle ist geschäftig wie bei uns der Check-in eines Flughafens, brechend voll und unglaublich laut. Menschenströme schieben sich durch das neue zwölfstöckige Gebäude. Die Tafeln mit den Namen und Kompetenzen der jeweiligen Therapeuten werden studiert, dann verteilen sich die Patienten über die Rolltreppen und Fahrstühle im Haus. An den Ausgabestellen für die Heilkräuter ist ständig Gedränge und Geschiebe, die Patienten verlassen mit riesigen Kräutertüten die Klinik. Viele Leistungen müssen sofort bar bezahlt werden, und Reihen von Geldautomaten stehen in jedem Stockwerk bereit, um den Geldbedarf zu decken.
Die chinesischen TCM-Ärzte − umgeben von drei ausländischen und drei einheimischen Studenten und einem Dolmetscher sowie den bereits wartenden nächsten zwei bis drei Patienten − verordnen in stoischer Ruhe im 5-Minuten-Takt äußerst präzise und komplexe Kräutermischungen. Die fehlende Privatsphäre für die Patienten ist gewöhnungsbedürftig. Trotz Stimmengewirrs scheint immer ein Strom der Konzentration zwischen Arzt und Patient zu entstehen. Viele Patienten haben humor- („Feuchtigkeit“, shi) und calor- („Hitze“, re) Symptome, passend zum klimatischen Einfluss. Wir sehen Akupunktur, Kräutertherapie, Moxibustion und Schröpfbehandlungen.
Das Smartphone ist hundertprozentig in den chinesischen Alltag integriert. Selbst das Setzen der Akupunkturnadeln wird unterbrochen, damit der Patient ein Gespräch annehmen kann.
Heilkräuter
Die Beschäftigung mit Heilkräutern war nicht auf die Klinik beschränkt. Im Heilkräutermarkt, einer riesigen Markthalle mit vielen kleinen Ladennischen, findet man neben den unterschiedlichsten Heilkräutern auch tierische Drogen wie Skorpione, Geckos, Seepferdchen, Schlangen und Sepia. Es war wieder laut, voll und eng, und während wir den Erläuterungen des chinesischen Professors folgten, kamen aus allen Richtungen Chinesen mit ihren Smartphones gelaufen, um uns zu fotografieren.
Am Wochenende besuchten wir die moderne pharmazeutische Fabrik in der Nähe des Qingcheng-Gebirges, die Granulate aus Heilkräutern herstellt, die z.B. Marianne auch in ihrer Praxis verordnet. Nach der Einladung der Geschäftsleitung zu einem Hot-Pot-Essen – hier lernten wir die Gepflogenheiten eines chinesischen Geschäftsessens kennen – und einer abenteuerlichen Busfahrt auf kurviger, immer enger und steiler werdender Straße begingen wir die Felder der Fabrik im Bergland. In dieser üppigen subtropischen Vegetation zeigte uns Professor Hu Changjiang den Anbau u.a. von Ligustici chuanxiong, Coptidis und Phellodendron. (Übrigens: die noch rasantere Abfahrt schien dem Busfahrer im Gegensatz zu uns viel Spaß zu machen.)
Das Wochenende
Ergänzt war dieser Wochenend-Trip durch Entspannung in den heißen Quellen des Howard Johnson Qingcheng Resorts und einer schweißtreibenden Besteigung des wunderschön angelegten heiligen daoistischen Berges Qingcheng zwischen Hundertschaften chinesischer Ausflügler vorbei an vielen Pagoden, Höhlen, Tempeln und Aussichtspunkten. Einige waren froh, dass sie wenigstens das mittlere Stück mit einer Seilbahn (Firma Doppelmayr, Österreich) überwinden konnten. Ein Schildchen mit der Aufschrift „gib mir Ruhe, dann schenke ich Dir Duft“ erinnerte unterwegs daran, worum es eigentlich hier geht.
Die Besichtigung der 2.200 Jahre alten Bewässerungsanlage von Dujiangyan, einem UNESCO-Welterbe, brachte die Aufnahmebereitschaft der Gruppe dann an ihre Grenzen.
Der Kontakt der SMS zur TCM-Universität Chengdu besteht seit mehr als 30 Jahren, in denen sich eine Freundschaft zur langjährigen Mitarbeiterin des FAO, Prof. Huang Qingxian, entwickelt hat. Diese Reise hat diese wie auch den Kontakt zum neuen Präsidenten der Universität, Prof. Liang Fanrong, intensiviert. Auch zu den anderen chinesischen Begleitern und Betreuern ist die Beziehung gewachsen. Dazu hat nicht zuletzt unser Abschiedsfest im Hotel beigetragen. Die kleine Tanzfläche war sofort voll, und zur Freude der Chinesen, die Karaoke lieben, haben wir bei dem Song „Marmor, Stein und Eisen bricht“ lautstark mitgesungen. Nach anfänglicher Scheu ließen sich die Chinesen mit Begeisterung auf unseren freien Tanzstil ein. Mit einem beneidenswerten Rhythmusgefühl erfassten sie die Melodien und genossen sichtlich die ausgelassenen Bewegungen. Die anderen Hotelgäste dokumentierten alles mit ihren Smartphones, und sogar von der Straße kamen neugierige Passanten, um sich die ungewöhnliche Feier aus einem anderen Kulturkreis anzuschauen − eine andere Form der Völkerverständigung.